Einander Tragen in Zeiten geistlicher Heimatlosigkeit
Superintendent Olivier Dantine zur aktuellen Situation
Ich fühle eine Art von Heimatlosigkeit. Vielleicht kann sie auch mit „geistlicher Obdachlosigkeit“ bezeichnet werden. Eine Situation, die bisher außerhalb meiner Vorstellungskraft lag: Eine dringende Empfehlung, sämtliche Gottesdienste und andere religiöse Veranstaltungen abzusagen. Nach allem, was ich höre und lese ist das angesichts der Coronavirus-Pandemie eine notwendige Maßnahme, um die Menschen aus den Risikogruppen zu schützen und einer Überlastung des Gesundheitssystems vorzubeugen.
Es hat aber zur Folge, dass das kirchliche Leben sich in diesen Wochen stark verändert. Mir ist die gottesdienstliche Gemeinschaft wichtig. Sowohl wenn ich selbst den Gottesdienst leite als auch wenn ich mit der Gemeinde feiere, Gottes Wort höre, singe und bete und den Segen Gottes empfange. Für meinen Glauben brauche ich die Gemeinschaft, brauche ich die Erfahrung des einander Tragens und Haltens. Und ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin. Da bricht etwas weg. Es bleibt das Gefühl einer geistlichen Obdachlosigkeit.
Und dann kommt an diesem Tag auch noch die Nachricht herein, dass die „Karfreitags-Klage“ vom Verfassungsgerichtshof zurückgewiesen wurde. Dieser Weg der Bekämpfung der so unglücklichen neuen Karfreitagsregelung war also nicht erfolgreich. Ein wichtiger Tag für das religiöse Leben bleibt also vorerst in der Sphäre des Privaten, er kann nur als ein Urlaubstag in Anspruch genommen werden. Hier ist uns letztes Jahr viel von geistlicher Beheimatung weggenommen worden, und es bleibt auch vorerst dabei. Für Angehörige der betroffenen Kirchen ist das äußerst unbefriedigend, für viele andere Christen auch unverständlich.
Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu Jesus: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Lukas 9,57-62; (Predigttext für den Sonntag Okuli, 15.3.2020)
Ich lese den Predigttext vom kommenden Sonntag. Ich lese vom Menschensohn, der nichts hat, wo er sein Haupt hinlegt. Auch er obdachlos. Mich tröstet das in diesen Tagen: Jesus Christus ist auch in dieser Situation der geistlichen Heimatlosigkeit da. Gerade jetzt dürfen wir seiner Nähe gewiss sein. Ein Stück Heimat auch in dieser Heimatlosigkeit können wir so wieder zurückgewinnen. Das möge uns alle durch diese außergewöhnlichen Zeiten hindurchtragen. Wir sind gewiss: Auch jetzt ist Jesus Christus mit uns und wir haben die Hoffnung und Zuversicht, dass wieder die Zeit kommt, in der wir diese Gemeinschaft feiern können, einander nahe sein können und einander die Hand reichen dürfen.
Gleichzeitig ruft Jesus in diesem Predigttext in die Nachfolge, und das mit einem sehr hohen Anspruch: Alles stehen und liegen zu lassen, und Jesus nachzufolgen auf dem Weg, das Evangelium vom Reich Gottes unter die Menschen zu bringen. Dieser hohe Anspruch heißt für hier und heute: Erkennen, was jetzt dran ist, wo wir jetzt gebraucht werden. Es heißt auch, das jetzt gerade nicht notwendige zu lassen.
Gerade in diesen Zeiten sind Zuwendung und Trost wichtig. Es wird in diesen Tagen in den Gemeinden intensiv überlegt, wie die Zuwendung unter Wahrung der bekannten Vorsichtsmaßnahmen möglich ist. Ich bin überzeugt, dass dies in guter und verantwortlicher Weise geschieht. Vielleicht ist es auch gut, sich unter den Pfarrgemeinden darüber auszutauschen. Auch das ist eine Form der Verbundenheit untereinander, die durch diese Zeit tragen kann.
Nicht zuletzt rufe ich zum Gebet auf. Im Gebet sind wir verbunden mit den Kranken und ihren Angehörigen; mit den Menschen, die große Angst vor Ansteckung haben und sich isolieren; mit den Menschen, die sich in Quarantäne befinden und sich große Sorgen machen; mit den Menschen, die durch diese Krise ihren Arbeitsplatz verlieren oder als Selbstständige zur Zeit einen großen Teil ihres Einkommens einbüßen; mit den Menschen, die nach Gemeinschaft und Zuwendung in der Kirche hungern, diese aber nicht in gewohnter Weise erfahren können. Beten wir auch für die Menschen im Gesundheitswesen, dass Sie ausreichend Kraft und Ausdauer haben, aber dennoch auch Zeiten der Ruhe finden. Beten wir für die Verantwortlichen in der Politik und bei den Behörden, dass sie die richtigen Maßnahmen setzen.