Identität und Propaganda in einem seltsamen Wort im Johannesevangelium (9,22; 12,42)
Seit über 20 Jahren begehen die Kirchen Österreichs jeweils am 17. Jänner den „Tag des Judentums“. Als Gedenktag im Kirchenjahr führte der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) diesen Tag ein. Christinnen und Christen sollen ihrer Wurzeln im Judentum und ihrer Weggemeinschaft mit dem Judentum bewusstwerden. Zugleich lädt dieser Tag ein, an jüdischen Menschen und ihrem Glauben begangenen Unrechts in der Geschichte zu gedenken. Wie sehr sich der „Tag des Judentums“ in diesen Jahren etabliert hat, zeigen die vielfältigen Veranstaltungen und Gottesdienste in Österreich. Was mit „Gedenktag“ begonnen hat, wurde um einen „Lerntag“ erweitert – herzlich willkomen zu unserem jährlichen Lerntag!
Wie fühlt es sich an, beschimpft zu werden? Als Außenseiter*in gekennzeichnet? Als „anders“ gebrandmarkt? Im Johannesevangelium haben Leute Angst, ausgeschlossen zu werden. Aber nicht der Ausschluss selbst, sondern die Bezeichnung eines solchen Ausschlusses ist dort ausschlaggebend; es geht nicht um physische, sondern um semantische Gewalt. Leute, die Jesus als den Messias bekennen, werden „Aus-der-Synagoge-er“ genannt. Ein furchtbares Wort, das auf Altgriechische genauso komisch klingt wie auf Deutsch und sonst nirgends in der antiken Literatur belegt ist. Aber ist das Wort tatsächlich verwendet worden? Wurden Menschen je so bezeichnet? Oder steht dahinter christliche Propaganda gegen die jüdische Synagoge? Es handelt sich hier dem Referenten zufolge viel eher um ein frühchristliches Trotzwort, das (fast!) verloren gegangen ist. Wenn man wie die frühen Christ*innen einen Verfolgungskomplex pflegt, ist es nämlich gut, beschimpft zu werden.
Referent: Univ.-Ass. Dr. J. Andrew Doole, Institutsleiter des Instituts für Bibelwissenschaften und Historische Theologie/Universität Innsbruck